Manufacturing Dissent
2013. Es ist ein Samstagnachmittag im Jahr der Schlange und ich stehe in den niedrigen, postindustriellen Berliner Ausstellungsräumen einer deutschen Kunstsammlerin, die jedes Jahr einen thematischen Querschnitt ihrer Sammlung zeigt. Diesmal hatte sie den chinesischen Tierkreis konsultiert: In einer gekonnten Verschmelzung von Kuratorischem und Diktatorischem sind wir eingeladen, überall Schlangenlinien zu sehen, unabhängig von den ursprünglichen Absichten der Künstler*innen. Umgeben von einem Joachim-Koester-Video, einem Franz-West-Stuhl und einer spiralförmigen Skulptur von Richard Deacon erhebt sich pythongleich eines der „Vierkantrohre“ aus der Serie von Charlotte Posenenske – lineare Anordnungen von viereckigen, verzinkten, hohlen Stahlrohren und angewinkelten Verbindungsstücken, die an Lüftungsrohre erinnern. Wie das Lächeln der Sammlerin bestätigt, handelt es sich um eine großspurige, plump-smarte Intervention. Von allen hier aufgezählten Künstler*innen hat Posenenske jedoch die Umgestaltung ihrer Kunst nach Wünschen der Käufer*innen am entschiedensten geduldet. Die zoomorphe Darstellung, die aufgrund ihrer konzeptionellen Entstehung und Herstellung und der aktuellen Anordnung sowohl auf die Jahre 1967-2009 als auch auf 2013 datiert ist, mag zwar cartoonhaft sein, verstößt aber nicht gegen den großzügigen modularen Geist dieser späten Arbeit der Künstlerin. Vielmehr eröffnen diese spezielle Form und der private Sammlungskontext die ursprünglich im Werk kodierten Fragen und machen sie unausweichlich.
Posenenske war bereits 24 Jahre tot als die Arbeit produziert wurde – ihr Nachlass, der von ihrem zweiten Ehemann Burkhard Brunn verwaltet wird, erlaubt den nicht-kommerziellen Verkauf einer unbegrenzten Anzahl von Neufassungen dieser Werke – und bis zu ihrem Tod im Oktober 1985 waren die Zeiten, in denen sie sich für die Kunstwelt interessierte oder zumindest an ihr teilnahm, bereits über fünfzehn Jahre her. Bekanntlich fing sie inmitten der Unruhen von 1968 an, sich vollständig aus der zeitgenössischen Kunst zurückzuziehen. Im Alter von 37 Jahren hörte sie auf, Ausstellungen zu machen und Aufträge anzunehmen, verfrachtete ihre verbliebenen Arbeiten auf einen Dachboden und begann ein Studium der Soziologie. Sie konzentrierte sich auf Fabrikarbeit und deren Wertschätzung und widmete den Rest ihres Lebens der Aufgabe, wie Brunn es ausdrückt, „die starre Standardisierung der Fabrikarbeit zugunsten einer erweiterten Mitbestimmung aufzubrechen“[1]. Während sie studierte, schrieben sie und ihr Mann mit Bleistift Leitsätze auf das weiße Kopfteil ihres Bettes, darunter einen von Goethe, der in etwa so lautete: „Und immer wieder haben sie die Theorie zur Praxis erhoben.“[2] Die Schlange in der Sammlung Hoffmann war und bleibt Theorie.
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Obwohl ihre Praxis erst drei Jahre vor ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben richtig in Schwung kam, hat Posenenskes Theorie zwischen 1956 und 1968 etwa 300 Kunstwerke hervorgebracht. Geformt wurde diese in einem Umfeld, das aus der Ferne als Folge einer erschütternden Kindheit im Nazideutschland wie ein Schmelztiegel tiefen Idealismus aussehen mag. Im Jahr 1940, als sie neun Jahre alt war, vergiftete sich ihr Vater. Er war jüdisch (ihre Mutter war es nicht) und musste davon ausgehen, dass er in Kürze in ein Konzentrationslager geschickt werden würde. Durch den tiefen Schock, den Posenenske erlitt, als sie die Leiche sah, wandte sie sich vollkommen von der Außenwelt ab. Sie wurde zu einer obsessiven Leserin; es gab nichts, was sie nicht las. Zwei Jahre später wurde ihr mitgeteilt, dass sie als Halbjüdin die Schule verlassen müsse. Sie „entging der Deportation nur, weil ein wohlwollender örtlicher Polizeibeamter ihre Akte versteckt hatte.“[3] Nach Kriegsende wurde sie wieder in die Ausbildung aufgenommen und studierte in Stuttgart bei dem Künstler Willi Baumeister, der sie, wie Brunn an anderer Stelle schreibt, „mit den sozialbezogenen Ordnungsvorstellungen des Neo-Plastizismus (Mondrian), den sozialrevolutionären Schaffensprinzipien des sowjetischen Konstruktivismus (El Lissitzky) und den kompromisslosen Ideen des Fortschritts, der Normierung, der kollektiven Arbeit und der Anonymität vertraut machte“.[4] Diese gesellschaftlichen Grundlagen des Kunstschaffens sollten entscheidend bleiben.
Während ihres Studiums in den frühen 1950er Jahren wählte Posenenske eine klassisch-strenge, minimalistisch-moderne Ästhetik: kahle weiße Wände, lange Reisen für die Suche nach der perfekten Steckdose, ehrfürchtiges Lesen von Adolf Loos’ „Ornament und Verbrechen“ (1908). Aber irgendwann brach sie ihr Studium ab und zog aus nicht nachvollziehbaren Gründen – man munkelte über eine heikle Affäre mit Baumeister (es gibt ein Foto, auf dem Posenenske nackt für ihn posiert) – nach Lübeck und schloss sich einer Theatergruppe an. Dort arbeitete sie von 1952 bis 1955 als Bühnenbildnerin. (Auch hier könnte man die Komponenten ihres späteren Werkes mit dessen weitsichtigen, proto-relationalen, partizipatorischen Aspekt und der neokonstruktivistischen Industrieästhetik erahnen.) Als sie Mitte der 1950er Jahre ihre künstlerische Praxis wieder aufnahm, betonte Posenenske erneut das Industrielle, das Unpersönliche: Ihre „Rasterbilder“ von 1956-57, grafische Muster aus Kreisen und Halbkreisen, erinnern an primitive elektronische Abbildungen; ihre „Spachtelarbeiten“ und „Spritzbilder“ (beides 1964 produziert), die zu ihren Lebzeiten nicht öffentlich ausgestellt wurden, förderten eine unpersönliche, von der Hand losgelöste Abstraktion, die in jener europäischen Vorkriegsmoderne wurzelte, die sie studiert hatte. Von hier aus arbeitete Posenenske unbeirrt weiter von der Flächigkeit weg, zunächst hin zu der sich selbst entblößenden illusionistischen Tiefe ihrer „Plastischen Bilder“ (1965-66) – selbstbewusste Zwiegespräche zwischen gefalteten Flächen und vor- und zurückweichenden Farben – und später die explizit gegenständliche Serie der „Reliefs“ von 1967, in der sie ebenfalls zur veränderbaren Form übergeht. (Danach verschwindet die Farbe mehr und mehr aus Posenenskes Werk und sie arbeitet stattdessen mit natürlichem Licht. Durch Schatten und Beleuchtung brachte sie die unterschiedlichen Aspekte von weißen und grauen Flächen hervor.)
All das wäre nur von geringer Bedeutung, wenn Posenenske nicht auch ihre eigene Autorität rigoros aufgelöst hätte. Als sie 1967 die „Vierkantrohre Serie“ erfand und begann, sie aus Stahl und Wellpappe anfertigen zu lassen, hatte sich ihre Auffassung von Urheberschaft und Eigentum erweitert und radikal verfeinert. Sammler*innen, Förderer*innen, Stahlarbeiter*innen, Transporteur*innen, Installateur*innen sowie „mentale und finanzielle Unterstützer*innen“ gehörten bei der „Herstellung“ der Skulpturen gleichberechtigt zu ihren „Mitautor*innen“. Die Arbeit, wie sie sie sah, war wie eine Fabrikware – sie bezeichnete ihr Publikum als „Konsumenten“ – und war ausdrücklich eine kollektive Leistung. Die Kollektivität erstreckte sich auf die Besitzer*innen, die die Teile des Werks nach eigenem Gutdünken umgestalten konnten, und auch auf Ausstellungen von Posenenske außerhalb des Galeriesystems – mit dem sie ohnehin Probleme hatte – zum Beispiel auf einer Verkehrsinsel in Offenbach. (Ihre Skulpturen waren selbstverständlich nicht signiert.) „Die Elemente sind reproduzierbar, und die Verbreitung ist unbegrenzt“, schrieb sie 1968, „Die Bauteile sind vergleichbar mit vorgefertigten Montageteilen, unterscheiden sich aber von diesen dadurch, dass sie keinen Gebrauchswert haben und den Anspruch erheben, Kunst zu sein. Abgesehen von diesem Anspruch, ist alles an ihnen kontrollierbar.“[5]
Man könnte, wie es manche tun, die „Vierkantrohre Serie“ als Einklang zwischen der Kunstwelt und der Fabrikhalle sehen, der die Exklusivität und das Privileg des einen mit dem scharfen Schlag der Realität – und der ego-losen Gemeinschaft – des anderen bloßlegt. Aber Posenenske, die die schrecklichen Seiten der systematischen Industrialisierung durch das Naziregime gesehen hatte, entfernet sich in entscheidender Weise von den chimärischen Lehren des Konstruktivismus. Es ist bemerkenswert, dass die „Vierkantrohre Serie“ in ihren Bezügen auf die industriellen Bedingungen und ihrem gleichzeitigem Rückzug davon die realen Probleme der industriellen Standardisierung vorwegnehmen, an deren Verbesserung Posenenske in ihrer „zweiten“ Karriere arbeiten sollte. Sie sind standardisierte Objekte, die sich nicht standardisiert verhalten sollen: Sie geben den Besitzer*innen Macht, sie sollen widerspenstig und subjektiv sein, sie bleiben im Fluss. Sie reagieren auf die Vorliebe des Kunstmarktes für das Einzigartige, das Unikat, aber verkörpern ebenso die engstirnige konformistische Ideologie der Welt des Arbeitsmarktes.
Doch in einem wichtigen Punkt kamen sie zu kurz. Obwohl sie die Autorenschaft neu verteilten, erlaubten die „Vierkantrohre Serie“ keine Interaktion des Publikums innerhalb des Ausstellungsraums. Dem kam Posenenske 1967 in einer Gruppenausstellung am nächsten, die von dem späteren Galeristen Paul Maenz und dem Künstler Peter Roehr zusammengestellt wurde. Die Ausstellung dauerte zwei Stunden und zehn Minuten und zeigte nur Kunst, die nicht transportierbar war. Sie fand unter dem Titel „All This, Sweetie, Will One Day Be Yours“ in der Galerie Dorothea Loehr, einem ehemaligen Bauernhaus am Rande Frankfurts, statt. Wie Archivfotos zeigen, arrangierten vier Männer in Lufthansa-Overalls die klobigen Pappröhren-Konstruktionen der Künstlerin immer wieder neu und nahmen dabei unter anderem auf das Wetter und die Anzahl der Zuschauer*innen Bezug . Und genau das war der Grund, warum die „Drehflügel“-Arbeiten in der zwingenden postfaktischen Logik von Posenenskes Entwicklung notwendig waren, warum sie einen klaren Endpunkt darstellen: In diesen 1967-68 entstandenen Objekt-Environments können die Scharnierplatten vom/von der Betrachter*in geöffnet oder geschlossen werden. Doch schon während sie diese herstellte, war Posenenske so gut wie fertig. „Es ist schmerzhaft für mich, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass Kunst nicht zur Lösung dringender sozialer Probleme beitragen kann“, schrieb sie in Offenbach in einer Stellungnahme zu ihrer Arbeit für die Schweizer Zeitschrift Art International im Mai 1968.[6] Wenig später lehnte sie eine Einladung ab, ein öffentliches Kunstprojekt in Westdeutschland vorzuschlagen, und schrieb, dass sie dagegen ist, Kunst als „Alibi“ zu nutzen, um „die Slums der Zukunft“ zu beschönigen.[7] Mit anderen Worten: Posenenske hatte die Kunst so nah wie möglich an die Realität herangeführt und musste feststellen, dass dies nicht genug war. Außerdem wurde sie von den Ereignissen überrollt. In einem Jahr voll von politischem Aktivismus forderte sie ihr Publikum auf, in einer Galerie ein paar Bleche zu drehen, als ob dies die Gesellschaft durch eine Art „Durchsickereffekt“ verändern würde – während die Straßen brannten. Die Aktion forderte zwar den Kontext heraus, war aber offensichtlich nicht genug. Eine eher bejahende Interpretation ist die der Kunsthistorikerin Christine Mehring. Diese sagt zum Beispiel, dass Posenenske trotz ihrer Befürwortung von hoffnungsvollen Aspekten ihrer Zeit „niemals Idealistin war“.[8] Nach Mehring waren ihre Werke vielmehr ein hingeworfenes Handtuch, das die Grenzen der Handlungsfähigkeit der Kunst beleuchtet, und ihre praktischen soziologischen Arbeiten keine Verleugnung ihrer früheren Position, sondern absolut im Einklang mit ihr. (Als ersten Schritt die Grenzen der Kunst gegenüber dem sozialen Wandel aufzeigen; als zweiten Schritt etwas tun, das wirklich dazu beiträgt.) Dabei wird wohl das Wort „schmerzhaft“ in ihrer Stellungnahme[9] von 1968 übersehen, und ebenso die Tatsache, dass die Industriesoziologie als Alternative nicht direkt „politisch“ ist, sondern akademisch.
Tragfähiger wäre eine Lesart, bei der Posenenske durch ihre Handlungen lange versucht hatte, etwas zu erreichen, und ehrlich genug war, es nicht zu verschweigen, als sie auf eine unüberwindbare Mauer stieß – ein Bestreben und eine ethische Standhaftigkeit, die an sich schon mutig genug sein sollte. Manche Künstler*innen suchen und andere finden, so Picasso; es scheint offensichtlich, welche Art Posenenske war, und die Suche ging innerhalb und außerhalb der Kunst weiter. All das und das soziologische Studium könnte man als die Anpassungsleistungen von jemandem sehen, der sein Leben lang hin- und her gerissen war zwischen Arbeiter- und Mittelschichtswurzeln, zwischen einer erlernten Liebe zur idealistischen Kunst und ihrer offensichtlichen Unterlegenheit in der realen Welt (und das in einer Kunstwelt, die sich als eine Mischung aus der Bekehrten und der Abgehängten predigt), zwischen politischem Bewusstsein und dem starken Bedürfnis, diesem Bewusstsein gerecht zu werden.
Vielleicht hat ihre Unschlüssigkeit nie aufgehört. Ein wichtiger Fakt blieb von den meisten Kritiker*innen unerwähnt: „Kurz vor ihrem Tod“, schreibt Brunn, „kehrte Charlotte Posenenske zur Kunst zurück.“[10] Sie lagerte die Kunstwerke, die sie „noch akzeptierte“ bei sich zu Hause in einem Zimmer. Alle anderen warf sie weg – Brunn sagt, er habe sie mit einem Hammer zerschlagen. Als Maenz Posenenske bat, ihr die Werke zu zeigen, war sie „sehr erfreut und zeigte ihm bereitwillig Arbeiten, die seit 20 Jahren nicht mehr ausgestellt worden waren.“ Vielleicht wollte sie ja doch noch einmal zurückkehren, und vielleicht wäre ein Rückfall gar nicht so schlimm gewesen, so illustrativ er auch gewesen wäre für eine Kunstindustrie, bei deren Hexengebräu aus Tugend und Laster es einem unendlich schwer gemacht wird, stichhaltig zu sein. Was für eine Tugend ist Schweigen, wenn der eigene Standpunkt von der Kunstgeschichte vergessen wird – wie es der von Posenenske damals anscheinend schon war?
Diese Fragen bleiben für immer im Raum stehen, weil die einzige Person, die sie mit Sicherheit beantworten könnte, nicht da ist. Und weil es ansonsten schwierig ist, die Wahrheit von den Interessen der Beteiligten zu trennen. Posenenske, selbst im Tod noch modular, wird zu dem, was ihre Kommentator*innen aus ihr machen wollen („unser schlechtes Gewissen“);[11] Galerist*innen, Kurato*innren und Ex-Ehemänner haben immer etwas zu gewinnen. Es bleibt uns überlassen, unsere eigenen Vorbehalte gegenüber einer Handvoll von Ideen zu überprüfen: dass das Kunstschaffen eine Art Höhepunkt der Auseinandersetzung mit „dringenden sozialen Problemen“ darstellt und nicht nur ein Heilmittel ist; dass Kunst parallel zum politischen Aktivismus funktionieren und Veränderungen mit derselben Geschwindigkeit herbeiführen sollte, und dass Künstler*innen sogar in ihrem Denken konsequent sein müssen. Umstritten ist auch, wo die Kunst aufhört – ob diese Kategorie, wenn man einmal Künstler*in war, einen Bogen über das ganze Leben spannt. Die Unentschlossenheit in der Erzählung von Posenenskes Portmanteau-Karriere hält diese Fragen in einem ständigen Spiel zueinander.
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Ein paar Jahrzehnte lang flackerte ihr Werk in der Kunstwelt nur sporadisch auf. 1986 gab es eine Ausstellung (in der Galerie Maenz, ihre erste Einzelausstellung seit 1969) und einige wenige weitere Ausstellungen bis 1990 – darunter Installationen, die Brunn in Obst- und Gemüsemärkten, Chemiefabriken und Kunstmessen aufbaute und die nur einen Tag dauerten. In den 90er Jahren, als sich die Kunst zunehmend durch genau die Art von interaktiven, publikumswirksamen Strategien begann auszuzeichnen, für die Posenenske Pionierarbeit geleistet hatte, war sie in der Öffentlichkeit nirgends zu finden. Erst das Wiederauftauchen ihres Werks auf der 12. documenta im Jahr 2007, kuratiert von Roger M. Buergel und Ruth Noack, löste eine umfassende Neubewertung aus – ironischerweise, denn eine von Posenenskes letzten Handlungen als Künstlerin war der Protest gegen die 4. documenta von 1968. Dort beteiligte sie sich an Protestaktivitäten, zum Beispiel verteilte sie Flugblätter, die darauf hinwiesen, dass solche Ausstellungen „uns blind machen für das soziale Elend und die beklagenswerten Zustände in der Gesellschaft“.[12] (Im Katalog der 12. documenta wurde dies erwartungsgemäß mit keinem Wort erwähnt.)
Von diesem Zeitpunkt an, inmitten einer Apotheose des Kunstmarktes, die Posenenske sicherlich angewidert hätte, ging die kulturelle Wiederauferstehung rasant voran: Galerieausstellungen, Retrospektiven in Zürich, Paris, Antwerpen und New York, Auftritte in thematischen Gruppenausstellungen, eine Monographie. Im Jahr 2010 wurde im New Yorker Artists Space – Posenenskes erste institutionelle Einzelausstellung in den USA – jedes zweite Wochenende ein*e andere*r in New York ansässige*r Künstler*in eingeladen, das Werk aus ihrer Sicht zu zeigen, darunter Rirkrit Tiravanija und Ei Arakawa. Hier wurden die „Vierkantrohre Serie D“ noch einmal neu konzipiert: als kulturelles Kapital, als buchstäbliche „Verbindungsstücke“ zwischen einer spät wiederentdeckten sich verweigernden Künstlerin – einem gespaltenen Bartleby – und einer neuen Generation von Beziehungspraktikern, als romantische Inspiration, als Ware. Der Veranstaltungsort veröffentlichte Posenenskes Abschied von der Kunst in einer Broschüre und auf seiner Webseite. „Obwohl die formale Entwicklung der Kunst mit zunehmendem Tempo fortgeschritten ist, hat sich ihre soziale Funktion zurückgebildet“, hatte sie 42 Jahre zuvor geschrieben.[13] Daraufhin hatte sie vor dem Eingang der documenta Flugblätter verteilt, auf denen unter anderem stand: „Ihr Kulturgeier, hier seid ihr also alle versammelt, um zu plaudern und zu lügen und Blödsinn zu quatschen, nur um ein bisschen Einfluss zu erlangen.“14 Bei jedem Künstler*innenwechsel in der New Yorker Show wurde ein kleiner Empfang gegeben. Stellen wir uns Charlotte Posenenske vor, wie sie nach unten schaut, halb amüsiert. Oder wie sie wegschaut.
Übersetzung aus dem Englischen von Theresa Patzschke.
1. Burkhard Brunn, Charlotte Posenenske (1930–1985): Erinnerungen an die Künstlerin (Frankfurt am Main: Revolver, 2005), 119.
2. Rückübersetzung aus dem vorliegenden englischen Originaltext
3. Christine Mehring, “Public Options: The Art of Charlotte Posenenske,” Artforum, September 2010, 275.
4. Burkhard Brunn, “For an Introduction,” in Charlotte Posenenske, ed. Museum für Moderne Kunst (Frankfurt am Main: Museum für Moderne Kunst, 1990), 5.
5. Zitiert aus Christophe Cherix, ed., In & Out of Amsterdam: Travels in Conceptual Art, 1960–1976 (New York: Museum of Modern Art, 2009), 108. Originally published in Charlotte Posenenske, Art & Project Bulletin 1 (September 1968).
6. Charlotte Posenenske, “Statements,” Art International 12, no. 5 (May 1968): 50.
7. Zitiert aus “Charlotte Posenenske an einem Bauunternehmer,” Egoist 1 (1970): 17.
8. Mehring, “Public Options,” 277.
9. Bezeichnenderweise übersetzt es Mehring anders, unnachgiebiger, als: “Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass Kunst nicht zur Lösung drän gender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann” (ebd., 273).
10. Brunn, “Biography,” in Charlotte Posenenske, 79.
11. Mehring, “Public Options,” 273.
12. Zitiert aus Brunn, Charlotte Posenenske (1930–1985), 117.
13. Siehe http://artistsspace.org/exhibitions/charlotte-posenenske.
14. Zitiert aus Brunn, Charlotte Posenenske (1930–1985), 117.