Vier Anmerkungen zu Yu Ji: Miss Shell, Delta, and Two Noughts
1.
Über drei Monate hinweg, als der Winter langsam dem Frühling Platz machte, spazierten Yu Ji und ihr vierjähriger Sohn Jier durch die Straßen Berlins.[1] Ich habe mich oft gefragt, wie sie wohl unterwegs sind: Gehen sie Hand in Hand, die kleinen Füße schreiten neben den Schritten der Mutter her? Sehen sie, was der andere trotz des Höhenunterschieds sieht, jeden Kieselstein, jedes Insekt, jeden Zigarettenstummel und jede leere Verpackung von glänzenden Dingen, das eigenartige Gewicht einer Wolke, die gekrümmte Schwere des Gangs oder Blicks eines Passanten? Bringen sie ein Stück der Welt mit sich, Samen, die in den Schnürsenkeln stecken, Schmutz unter den Fingernägeln, eine Handvoll gestohlener Kieselsteine in einer Plastiktüte?
Als ich mir eine Mutter vorstellte, die ein Kind auf dem Arm hat, fragte ich mich, an welchem Punkt der winzige Luftspalt zwischen zwei Körpern verschwindet und die Grenze der Ununterscheidbarkeit des Körpers weicht. Die Antwort scheint dort drüben auf dem Tisch zu liegen, im Augenwinkel, und ist doch wieder weg, wenn ich mich umdrehe. Yu Ji betitelte die Arbeit Ghosts, diese Tischarbeit, die sie einmal für eine Ausstellung in der Chisenhale Gallery zusammengestellt hatte, indem sie Anweisungen aus einem abgesperrten Shanghai per Zoom nach London gab.[2]
Die neue Version, die auf dem Tisch liegt und meinen Fragen ausweicht, ist von ihr handgefertigt - von ihren eigenen Händen, also ein Negativ ihrer Hände und ihrer Verlängerungen (Werkzeuge), im Sinne davon dass formbarer Schlamm ihrer Bewegung, Form und Kraft nachgibt. Eine mit Steinen übersäte Lache aus Zement wiederholt gebrochen die Rundungen der runden Tische, so wie sich eine Hautfalte nach der anderen wiederholt. Während der Originaltitel 叠影 eine Überschneidung, eine Verdoppelung, einen Stapel oder eine Stapelung von Schatten abbildet, geht diese Formalität eines Stotterns oder einer Verdoppelung in der Übersetzung verloren. Obwohl man vielleicht noch erkennen kann, wie sich das gefaltete Fleisch als mutierendes Produkt vom Torso abhebt und/oder mit ihm verschmilzt, vergesse ich zunehmend, wie sich der Torso in Bezug auf den Gips hinter ihm verhält - eine steingraue Masse, die aus ihrer eigenen weißen Hülle, ihrem gezackten Schoß und ihrem Negativabdruck herauswächst und sich darin zurückzieht. Geist auf Geist auf Geist.
Ich fragte mich also, inwiefern der Körper der Mutter weiterhin das Negativ des Kindes darstellt, wenn das Neugeborene seine kugelrunde Hülle abgestreift hat.
2.
Die neuen Arbeiten, die während ihres dreimonatigen Aufenthalts im CCA Berlin entstanden sind, sind eine Fortsetzung der langfristigen Skulpturenserie Flesh in Stone (石肉), die seit 2012 einen zentralen Platz in Yu Jis Praxis einnimmt. Die früheren Werke zeigen Körperfragmente aus Gips und Ton, die ihre Unvollständigkeit mit unterschiedlichen Graden von Spannung oder Lässigkeit festhalten, sich ausbreiten oder in unterschiedlicher Haltung schweben oder sinken, aber fast immer geschlechtslos, kopflos und ohne Gliedmaßen, mit fehlenden Händen und Füßen. In dieser fortwährenden rigorosen Untersuchung des Körpers scheint all das, was entfernt wird, über Yu Jis Verständnis von "Fleisch" hinauszugehen, oder besser gesagt, über ihre quasi animistische Faszination für 肉, das im chinesischen Kontext [wie auch im Deutschen] nicht zwischen flesh und meat unterscheidet, manchmal aufgrund einer innenlosen Dichte nicht einmal Blut oder Knochen enthält. Ihr Objekt der Faszination, dieses "steinerne Fleisch", wird daher am besten durch den opaken Torso verkörpert, den am wenigsten "menschlichen" Teil des menschlichen Körpers - manche würden sogar sagen, Körper ohne Organ -, da er keine Identität und Individualität (dargestellt durch Kopf, Gesicht, Leiste), keine Absicht und keinen Willen (konkretisiert durch handlungsfähige Gliedmaßen) hat.
Dennoch treten die Hände in Miss Shell, Delta und Two Noughts in Erscheinung. Eine Reihe von Schwarz-Weiß-Fotografien untersucht die Handgesten aus dem täglichen Leben und der Arbeit eines Bildhauers und fasst sie zusammen. Auf dem Boden ragen zwei kleine Silikonfäuste aus einem ausgehöhlten Torso - der wie eine Muschel geformt ist, die sich in sich selbst zusammenrollt - eine über der anderen, die schwebt und Geheimnisse birgt. Hände, die Papierblumen falten, Hände, die Tulpenblätter sammeln, Hände, die um den Arbeitsplatz herum verstreut sind wie Perlen im Sand oder Fundstücke von der Straße, die vergessen wurden, um weggepackt zu werden, alle zartgrün und halbdurchsichtig.
Ich erinnere mich, wie ich auf diese Hände zeigte und Jier fragte, ob das seine eigenen Hände seien. Ich wusste bereits, dass die Antwort "Ja" lauten würde, hatte aber vorübergehend das chinesische Wort für "nachbilden" vergessen. Er starrte mich einen Moment lang an und sagte dann mit größter Gewissheit: "Nein, nicht meine Hände." Ohne es als Missverständnis abzutun, begann ich mich zu fragen, was es bedeutet, meine eigenen Hände zu verleugnen - was es für das Fleisch bedeutet, seinen Schatten zu verleugnen, als würde es ein Phantom loslassen. Kann eine bestimmte Geste vom Körper abgestreift und zu einem Geist werden? Wie können wir unseren eigenen Körper besitzen, wenn sich seine Konturen, Bewegungen und Handlungen ständig ablösen, weglaufen, vor dem Wirt fliehen?
Der Name Ji-Er bedeutet wörtlich "Der Sohn von Ji". Aber wenn er leise ausgesprochen wird, wie es im Volksmund in einem Namen vorkommt, verliert das Schriftzeichen "Er" seine geschlechtliche und familiäre Bedeutung. Es wird zu einem reinen Zärtlichkeitssignal, das besitzergreifende Band des Blutes wird zu einem linguistischen Affix, der auf die Ohren der Geliebten abgestimmt ist. Yu Ji und Jier. Fliehen die Silben dieser Namen voreinander oder halten sie sich aneinander fest?
3.
Yu Ji mischte Zement in einem kleinen Eimer, den Rücken gebeugt, beide Hände weiß und grau verschmiert. Der hypnotisierende, dudelnde Soundtrack eines Kinderzeichentrickfilms brach plötzlich in eine Autowerbung ab. Jier drehte sich unruhig auf dem Stuhl neben mir um und wippte mit den Füßen unter dem Tisch hin und her. Wie aufs Stichwort richtete sich Yu Ji von ihrer Arbeit auf und drehte sich um. "Kannst du die Werbung für ihn auf dem iPad überspringen, meine Hände sind schmutzig." Wochen später, als Mutter und Sohn bereits nach New York weitergezogen waren, erwähnte ich diesen Moment gegenüber Yu Ji im Zoom, ein wenig verlegen über die Belanglosigkeit meiner Erinnerung. Sie erinnerte sich nicht, lachte aber und bestätigte mir, als ich ihr meine unbeholfenen Spekulationen über die Unvereinbarkeit von Künstlerhänden und Mutterhänden erklärte und darüber, wie sich ihre Tätigkeiten oft überschneiden oder gegenseitig im Weg stehen. Später kam der Gedanke doppelt beunruhigend auf mich zurück: Führt dieses Nebeneinanderstellen der Hände nicht eine Logik der Interpretation (wieder) auf? Diese Logik funktioniert über die Mechanismen der neoliberalen Wertschöpfung und der systemischen Prekarisierung. Infolgedessen reduziert sie sowohl die Pflegearbeit als auch die kreative Arbeit auf einen Interessenkonflikt zwischen Beruf a und b. Und zweitens: Ist die Betonung der Mutterschaft als Identität - verdichtet in kunsthistorischen Kategorien wie "Mutter-Künstlerin" oder "mütterliche Kunst" - nicht potenziell genauso reduzierend und gewalttätig wie klebrige Etiketten wie "queere Künstlerin", “weibliche Künstlerin”, "schwarze Künstlerin" oder "chinesische Künstlerin"?
Wenn Fleisch und Stein ein unbestimmbares Materie-Masse-Ding-Sein bilden, das unter oder gegen das Wirken der Repräsentation steht, das heißt, wenn die Werke von Flesh in Stone sich weigern, sich der zwanghaften Trennung zwischen Form und Inhalt anzupassen - ein Zwang, der seine sprachliche Wurzel in der Einfügung der Präposition "in" im Titel offenbart, um einen Sinn zu erzeugen -, dann würde ihre ambivalente Präsenz sofort oder letztendlich alle klebrigen Etiketten und die Auferlegung bereits bestehender Bedeutungen zurückweisen. [3] Aber dieses sofortige oder letztendliche Zugeständnis an die Undurchsichtigkeit scheint auch von uns eine Menge Arbeit zu verlangen. Es erfordert eine Verlangsamung vom Sehen zum Denken, eine Ausdehnung der augenblicklichen Begegnung in ein längeres Köcheln der Sinne, eine Aufhebung bestimmter eingefahrener Pfade sowie bestimmter Tendenzen zur Interpretation und Subjekt-Objekt-Interpellation und eine stillschweigende Anerkennung, dass "die lebendige Materie dem Zerfall zum Äquilibrium ausweicht, aber nicht davonläuft"[4] und sich dennoch entzieht. Die Materie, die das Lebendige mit dem Unlebendigen verbindet, ist keine Sache der Sequenzialität des Lebens, sondern seiner Fraktalität - eine unendliche Vervielfältigung von Geistern.[5]
4.
Anstatt also die ortsspezifischen Merkmale der verwendeten Materialien zu wiederholen - eine abgrenzende Terminologie, die den Diskurs über Yu Jis Arbeit bestimmt hat, lange bevor sie ihren Fuß "in den Westen" gesetzt hatte -, habe ich mich gefragt, ob es nicht sinnvoll wäre, von diesen Begriffen abzuweichen, nicht um dem Mythos der Authentizität nachzujagen, sondern um die Fehlübersetzung einen Schritt weiter zu führen. Diese Abweichung beginnt mit dem Bewusstsein, dass das, was für einen Ort spezifisch ist und sichtbar gemacht wird, immer schon in eine intimere Ebene der Spezifität verwickelt ist - die besondere Beziehung zwischen einem Ort und dem Ich, das den Ort durchstreift und dabei die Konturen seiner eigenen psychischen Landschaft wie auf einem Blatt Pauspapier nachzeichnet. Anstelle der Besonderheit des Ortes lese ich also eine Andeutung der Beschränkung oder Freiheit der Selbstverlagerung, in der der unsichere, verletzliche Zustand des Unterwegsseins und das belastende Maß des Rechts auf Mobilität in Fleisch und Blut übergehen.
Ein weiteres offenes Geheimnis im Raum: ein zusammengerollter Zettel an der Wand für diejenigen, die es wissen könnten: "Am letzten Tag vor der Abreise aus Shanghai fuhren wir ans Meer. Das Meer, das mir am vertrautesten war, wurde mir fremd."[6] In dem Maße, in dem sich Yu Jis Arbeit der Überdeterminierung des rassifizierenden und vergeschlechtlichenden Blicks entzieht, öffnet sie sich einem Feld geteilter Sehnsüchte und Intimitäten, in dem der Akt des Umherwanderns die räumliche und zeitliche Abgrenzung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten aufbricht und neu erfindet. Wenn uns die Erfahrungen von Enge und Isolation in der Vergangenheit eines gelehrt haben, dann vielleicht, dass Bewegung kein Luxus ist, sondern wie Nahrung und Wasser eine Voraussetzung für das Leben. Anstelle von Gegensätzen sehe ich also eine offene Frage in der Untersuchung von Stein-Fleisch: Ist es möglich, sich Bewegung und Stille als ein nebeneinander liegendes Paar vorzustellen, das nicht durch eine Präposition vermittelt wird, sondern sich berührt wie Fleisch, das Fleisch umarmt, wobei das eine in das andere einfließt?
An einem regnerischen Tag im Mai reisten eine Mutter und ihr Sohn von Stadt A nach Stadt B. Irgendwie stelle ich mir vor, dass ihre Wanderung dort weitergeht, ohne das Versprechen, zurückzukehren oder anzukommen, an einem anderen bekannten und unbekannten Ort, auf Straßen, die sowohl fremd als auch vertraut sind, und wahrscheinlich eine neue Spur von Geistern hinterlässt.
[1] Dieser Text wurde anlässlich der ersten Einzelausstellung von Yu Ji in Deutschland verfasst, in der sie neue Werke zeigt, die sie während ihres dreimonatigen Aufenthalts in Berlin im Rahmen des CCA Berlin Artist in Residence-Programms geschaffen hat. Der Text wurde ursprünglich von Nan Xi auf Englisch verfasst und intern ins Deutsche übersetzt.
[2] Yu Jis Einzelausstellung Wasted Mud, Chisenhale Gallery, London, 22. Mai bis 18. Juli 2021.
[3] Denn der Originaltitel 石肉 bedeutet "Stein Fleisch": Diese unvermittelte Aneinanderreihung von Substantiven weigert sich, eine Beziehung von "als, in, von, zu, von..." zu spezifizieren, sondern impliziert gleichzeitig jedes und alles.
[4] Eine Variation von dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Schrödingers.
[5] Der mathematische Begriff der Fraktalität liefert ein Leitbild für das Denken über die Beziehung zwischen den soziohistorischen Bedingungen des Lebens und dem Individuum als sich unendlich ausdehnende Muster, in denen jede singuläre Existenz in und durch jede andere verwoben ist. So verstanden ist die Figur des Fraktals eine Möglichkeit, die menschliche und nicht-menschliche Interdependenz zu verstehen, ein Versuch, Subjektivität mit Objektivität zu verbinden.
[6] Ursprünglich handschriftlich auf Chinesisch verfasst.