Rene Matić
AS OPPOSED TO THE TRUTH

Eröffnung: 7. Nov. 2024, 18–21 Uhr
Am 9. November 2024, einem Samstag, wird Rene Matić um 15 Uhr eine Führung durch die Ausstellung geben. Eintritt frei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Die Führung findet in englischer Sprache statt.

 

Rene Matić, Untitled (No Place for Violence), 2024, Ausstellungsansicht, CCA Berlin, 2024. Foto: Diana Pfammatter/CCA Berlin.

AS OPPOSED TO THE TRUTH ist die erste institutionelle Einzelausstellung von Rene Matić (GB) in Deutschland. Matićs künstlerische Praxis umfasst Fotografie, Film, Skulptur und Poesie und beleuchtet häufig, wie sich soziale Dynamiken von Race, Gender und Klasse in intimen Beziehungen manifestieren. Im Zentrum von Matićs Arbeit steht die kritische Auseinandersetzung mit nationaler Identität und der damit verbundenen Symbolik, die in Alltagsbildern zum Ausdruck kommt. 

Die Ausstellung im CCA Berlin zeigt eigens für die Ausstellung entstandene Fotografien und Installationen. Sie lassen sich auf Matic’s Faszination für das Zusammenspiel von Körpern, Identitäten und Ausdrucksformen politischer Verbundenheit im Kontext des globalen Aufstiegs des Rechtspopulismus zurückführen. In einer Zeit, in der politische Diskurse von großer Rhetorik und performativen Gesten durchzogen sind, kann die Sprache des Mitgefühls und die Verurteilung von Gewalt eine Illusion von Fürsorge erzeugen und gleichzeitig die brutale Realität systemischer Gewalt verschleiern. Angesichts dieser Doppeldeutigkeit der Macht sucht Matić nach Möglichkeiten des Widerstands in zwischenmenschlichen Beziehungen. Intimitäten und Begehren – so fragil oder illusionär sie erscheinen mögen – können unserer individuellen Realität tiefere Bedeutung verleihen. Die Ausstellung schafft Raum für das Zusammenwirken des Persönlichen und Politischen und bietet Einblicke in die Art und Weise, wie Menschen sich aneinander festhalten und füreinander sorgen. So zeigt sich, wie wir lernen können mit unserer Verletzlichkeit zu leben – sei es trotz oder im Widerspruch zu einer sogenannten Wahrheit.

Seit vielen Jahren sammelt Matić Schwarze Puppen, die in Secondhandläden abgegeben oder online verkauft werden. Diese Puppen sind verwahrlost, vernachlässigt und in Teilen zerbrochen. Matić sieht in der Sammlung eine Anspielung auf die Kindheitserfahrungen des eigenen Vaters, dem als Schwarzer Junge in Peterborough (GB), Fürsorge verweigert wurde: „Ich habe diese Kinder adoptiert, so, wie er es nie wurde – behutsam und liebevoll.“ Mit Zärtlichkeit spricht Matić über die Puppen, kleidet sie neu ein, schenkt ihnen ein Zuhause. Gleichzeitig scheut Matić nicht davor zurück zu zeigen, wie unmöglich es ist, diese Puppen vollständig zu reparieren. Ihre rassifizierten Züge, ihr ungekämmtes Haar, die gebrochenen Gliedmaßen und die sichtbaren Spuren der Vernachlässigung machen das Hinschauen beinahe unerträglich. Doch für Matić ist Restoration (2022–fortlaufend) ein persönliches Träumen trotz und angesichts anhaltenden Schmerzes und Verlusts. Es ist ein Traum von einer Liebe, die inmitten des Zerbrochenen fortbesteht – sanft und im Anblick der Wunden.

Matićs Faszination für Flaggen entspringt einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit deren Widersprüchlichkeit. Für Matić gleicht eine Flagge einer Münze, einer schwingenden Tür, die Menschen in die paradoxen Fänge von Identität und Zugehörigkeit lockt. Allzu oft wird sie zu einem Instrument, das spaltet, vereint oder tötet. In Matićs poetischem Bild-Kosmos entblößt die Installation Untitled (No Place for Violence) (2024) das Prinzip der Flagge selbst. Das Werk zitiert Joe Biden und Barack Obama nach dem versuchten Anschlag auf Donald Trump im Juli: „In unserer Demokratie ist kein Platz für Gewalt.“ Vor dem Hintergrund globaler Debatten um die Angriffe vom 7. Oktober 2023 und den anhaltenden Krieg gegen Palästinenser*innen, dem bisher zehntausende Menschen zum Opfer gefallen sind, verweist die Installation auf die trügerische Logik westlicher politischer Rhetorik: Die Verurteilung von Gewalt dient als moralisches Symbol universeller Menschenrechte, während das vermeintliche Übel zugleich außerhalb unserer Demokratie verortet wird, wo eine außergewöhnliche Gewalt (seien es souveräne, koloniale, anti-terroristische oder andere Akte) stets im Namen eben dieser Demokratie gerechtfertigt wird. Wenn dies die beiden Seiten derselben Münze sind, wie können wir dann die andere Seite der Flagge – die „andere Seite der Wahrheit“ – ignorieren? Können wir ohne unsere eigene Realität infrage zu stellen überhaupt hinschauen, wenn andere in den Nicht-Orten „legitimierter“ Tötungen leben und sterben?

„Fotografien sprechen auf einzigartige Weise zu unseren Umständen. Sie treten der Macht entgegen und heben hervor, was zwischen den Zeilen und stillen Lücken passiert.“[1] Matićs Kamera richtet sich auf diese subversive Dimension von Alltagsbildern, die Tina Campt beschreibt. In der Fotoserie Feelings Wheel (2022–fortlaufend) verweben sich Momentaufnahmen von sich küssenden Menschen, Graffiti, Blicke aus einem Pub, Straßenecken, Protesten und Partys zu einem Wirbel von Emotionen. Diese Bilder streben weniger nach Repräsentation als vielmehr nach der Nähe von Menschen. Matić dokumentiert hier Familien und Freund*innen in ihrem alltäglichen Umfeld. Die körnige Struktur der vergrößerten Fotografien fängt ein intimes Gefühl ein – als teile man Raum mit jemandem und spüre die Wärme der Haut des Anderen. Es geht nicht darum, Menschen darzustellen, sondern sie in ihrer Gegenwart zu erleben: Körper auf der Suche nach Liebe und Verbundenheit, mit all ihrer Verletzlichkeit und den Spuren, die sie hinterlassen. Matićs Fotografien ziehen uns hinein, fordern uns auf, näher und noch näher hinzusehen, nicht aus sicherer Distanz, sondern fast in Berührung und offen, selbst berührt zu werden. Unsere Spiegelbilder tanzen in den übereinander geschichteten Rahmen der Fotografien und wir werden selbst Teil des Feelings Wheel. Im Verschwommenen liegen all die kleinen Momente, die uns ausmachen, und all die verborgenen Orte, an denen wir das Gefühl haben, ein Zuhause gefunden zu haben.

Vielschichtige Klänge dringen aus dem hinteren Raum durch die Flure. 365 (2024)[2] ist eine ortsspezifische Klanginstallation, die auf das Foyer-Gebäude reagiert. Aufnahmen der Kirchenglocken und des Chors stammen aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Die ursprünglichen Glocken der Kirche wurden aus geschmolzenen Kanonen gegossen und später wieder für Kriegszwecke eingeschmolzen. Im Soundpiece verweben sich die Klanglandschaften der Kirche mit Nachrichten, persönlichen Gesprächen, Rufen bei Protesten, Herzschlägen und Popsongs. Diese Collage zeugt von den zerrissenen Realitäten unserer Zeit. In einem Raum, der visuell an die Ballroom-Szene erinnert,[3] führt uns die Arbeit durch eine Bandbreite an intensiven Emotionen. Die Lehren von James Baldwin und bell hooks über Liebe und Tod unterbrechen dabei immer wieder den Klangteppich.[4] Am Ende bringt uns Rihannas Lift Me Up zurück an den Ursprung: zu einer drängenden Sehnsucht nach Liebe, um zu überleben, allen Widrigkeiten zum Trotz.

[1] Tina Campt. A Black Gaze: Artists Changing How We See. Cambridge (MA): The MIT Press. 4. Übersetzung der Verfassenden.
[2] Der Titel der Arbeit bezieht sich auf den Song 365 von Charli XCX. Ihr Album Brat, das diesen Sommer erschien, ging weltweit viral.
[3] Ballroom ist eine Subkultur, die Mitte des 20. Jahrhunderts in den Schwarzen und lateinamerikanischen Queer-Communities in New York entstanden ist und vor allem in den 70er und 80er Jahren an Bedeutung gewann. Im Mittelpunkt stehen sogenannte Bälle, bei denen Einzelpersonen in verschiedenen Kategorien bezüglich Tanz, Mode und Performance gegeneinander antreten.
[4] James Baldwin (1924–1987) war ein afroamerikanischer Schriftsteller und Aktivist, bekannt für seine Romane, Theaterstücke und Poesie. bell hooks (1952–2021) war eine afroamerikanische Autorin, Theoretikerin, Pädagogin und Gesellschaftskritikerin, bekannt für ihre Arbeit zu Rassismus, Feminismus und sozialen Klassen.

Gefördert durch LEAP. Mit zusätzlicher Unterstützung von Arcadia Missa, London, und Francesco Paolo Francica. Wir sind auch unserem Hospitality Partner 25hours Hotels dankbar.

Die Ausstellung wird durch eine Publikation zu Rene Matićs Arbeit und Praxis ergänzt, die im Frühjahr 2025 erscheinen wird.

Das öffentliche Begleitprogramm umfasst Führungen und eine dreiteilige Workshopreihe Home Is Where We Displace Our Selves.

Kuratoren: Fabian Schöneich mit Nan Xi
Produktion: Franz Hempel
Curatorial Fellow: Pauline Herrmann

Rene Matić, AS OPPOSED TO THE TRUTH, Ausstellungsansichten, CCA Berlin, 2024. Fotos: Diana Pfammatter/CCA Berlin.

Rene Matić (geb. 1997 in Peterborough, GB) ist britische*r Künstler*in. Matićs künstlerische Arbeit umfasst Fotografie, Film und Skulptur und trifft sich an einem Ort, den Matić als „rude(ness)“ beschreibt – ein Aufzeigen und Würdigen des Dazwischen-Seins. Matić lässt sich von Tanz- und Musikbewegungen wie Northern Soul, Ska und 2-Tone inspirieren, um das komplexe Verhältnis zwischen westindischer und weißer Arbeiter*innenkultur in Großbritannien zu erforschen. Im Zentrum steht dabei die queere Intimität, Partnerschaft und Freude als Überlebensstrategie.

Seit 2017 wurden Matićs Arbeiten in verschiedenen institutionellen Rahmen präsentiert, u.a in der Saatchi Gallery, der South London Gallery, bei Sadie Coles HQ, der Martin Parr Foundation in Bristol und dem Kunstverein Gartenhaus in Wien. 2023 fand Matićs erste Einzelausstellung in den USA in der Galerie Chapter in New York statt. Werke von Matić sind in öffentlichen Sammlungen zahlreicher internationaler Institutionen vertreten, darunter Tate, Fondation Louis Vuitton, UK Government Art Collection, Arts Council Collection, Martin Parr Foundation und South London Gallery.